Opfer der NS-Euthanasie

Nach der Verlegung von zehn Gedenksteinen für jüdische Verfolgte und Opfer, wende ich mich anschließend dem Bereich NS-Euthanasie zu. Am 21. November 2004 kann ich zu einer Matinée mit Vortrag und Diskussion in den Lahrer Stiftsschaffneikeller einladen. Die wissenschaftliche Seite vertritt der Oberarzt am Zentrum für Psychiatrie Emmendingen Dr. Gabriel Richter. Am 106. Geburtstag meiner Großmutter Katharina spreche ich über meinen Informationsstand zum damaligen Zeitpunkt hinsichtlich der Recherche ihres Schicksals.


Haltung von Vertretern der Stadtverwaltung

Anwesend sind auch der Oberbürgermeister und der Stadthistoriker. Letzterer lehnt zwar die Abhängigkeit der Verlegung von „Stolpersteinen“ vom Votum der Hauseigentümer ab, als Bediensteter der Stadt ist er aber nach eigenen Worten an Gemeinderatsbeschlüsse gebunden und sieht eine seiner Aufgaben darin, dass diese eingehalten und umgesetzt werden. Er äußert sich in der Form, dass öffentliches Gedenken über privatem Gedenken stehe. Dieser Haltung schließt sich der Oberbürgermeister an. Beide räumen damit gleichzeitig öffentlichen Interessen eine höhere Bedeutung bei als privaten. Dr. Richter nennt das Ansinnen eine „zweite Stigmatisierung der Familien“.


Die Aktion T4

Ich setze dennoch meinen begonnenen Weg fort. Grundlage für mögliche Gedenksteinlegung für diese Opfergruppe sind Transportlisten von Emmendingen nach Grafeneck, die ich im Staatsarchiv Freiburg ausfindig mache. Diese Listen sind Teil der Planung und Organisation des industriellen Massenmords an psychisch Kranken und geistig Behinderten, die als „lebensunwert“ gelten im Rahmen der Aktion T 4 (Tarnname benannt nach der Organisationszentrale in der Berliner Tiergartenstr. 4). Grundlage für die Erfassung aller Pfleglinge in den staatlichen und konfessionellen Anstalten ist Hitlers „Euthanasie“-Erlass, durch den „unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“. Der Erlass war zurückdatiert auf den Tag des Kriegsbeginns, dem Beginn des Kampfes gegen die inneren und äußeren Feinde des Reiches.


Kriterien für die Erfassung der Patientinnen und Patienten sind Erbkrankheiten wie Schizophrenie und andere neurologische Erkrankungen oder eine dauerhafte Aufenthaltsdauer von mehr als fünf Jahren. Gefragt wird ebenfalls nach Staatsangehörigkeit und Rasse, Arbeitsfähigkeit, ggf. krimineller Vorgeschichte oder ob der Patient regelmäßig Besuch erhalte.


Planung und Durchführung des industriellen Massenmords

Die Versendung der Meldebogen erfolgt im September 1939 und soll bis Anfang November ausgefüllt an die Organisationszentrale zurückgesandt werden. Hier wird später die Auswahl der „Verlegungen“ getroffen, die den Leitungen der Heil- und Pflegeanstalten als Transportlisten zugestellt werden. Diese enthalten neben den Namen der Patientinnen und Patienten, deren Geburtsdatum und Geburts- bzw. Wohnort.


Zur gleichen Zeit wird das Samariterstift „Krüppelheim“ Grafeneck auf der Schwäbischen Alb zu einer Tötungsanstalt umfunktioniert und geht als erste von sechs Vernichtungsanstalten, in denen industriell gemordet wird, am 18. Januar 1940 in Betrieb. Bis zum 19. Dezember 1940 werden hier 10.654 Menschen durch Kohlenmonoxid getötet. In aller Regel waren Tag der „Verlegung“ und Tag der Ermordung identisch. Die Patientinnen und Patienten werden mit grauen Bussen an der Stammanstalt abgeholt, ggf. medikamentös ruhig gestellt und nach mehrstündiger Busfahrt nach Grafeneck verbracht. Am Eingang der mit einem drei Metern hohen Bretterzaun bewehrten Anlage befindet sich der Hinweis „Wegen Seuchengefahr Betreten verboten“. Das Tor wird geöffnet und der Bus bringt die Insassen zur Aufnahmebaracke, die mit weiß bezogenen Betten den Eindruck erweckt, als handle es sich um eine einfache Verlegung. Die Patientinnen und Patienten werden aufgefordert, sich auszukleiden. Sie werden gemessen, gewogen und fotografiert. Ihr Mund wird inspiziert und vorhandene Goldzähne auf dem Rücken entsprechend markiert. Diese werden nach dem grausamen Akt gezogen und die Firma Degussa verarbeitet sie später zu Feingold.


Ein Arztgespräch von ein bis zwei Minuten schließt sich an, das aber keinem medizinischen Erkenntnisinteresse mehr dient, sondern nur noch dem Finden einer plausiblen Todesursache. Danach wird die Gruppe über den Hof in die als Duschkabine getarnte Gaskammer getrieben, vorbei an verkohlten Alleebäumen, in der Nase den permanenten süßlichen Geruch verbrannter Leichen, und die Türen durch den zuständigen „Euthanasiearzt“ verschlossen. Namentlich zu nennen wäre hier Dr. Ernst Baumhardt, der sich auch Dr. Jäger nannte. Die Gasflaschen stellt die Firma Mannesmann her, die Befüllung erfolgt durch die Firma BASF.


Zwanzig Minuten dauert die unmenschliche Prozedur bis sich im Innern kein Lebenszeichen mehr regt. Danach werden die Türen geöffnet und die Ventilatoren eingeschaltet. Nun kommt der Brenner in Aktion. Er zieht die ineinander verkrampften Leichen aus der Gaskammer und bringt sie zur Verbrennung. Mit überdimensionalen Pfannen, auf denen zwei bis drei Leichen Platz haben, setzt er die Verbrennung in Gang.


Vertuschung, Verschleierung, Irreführung

Aus Tarnungsgründen auch den Angehörigen gegenüber werden die Akten der ermordeten Patienten an andere Vernichtungsanstalten verschoben und von dort aus die Familien benachrichtigt mit häufig falschem Sterbedatum und Sterbeort. In geheucheltem Beileidsschreiben wird die Möglichkeit der Urnenanforderung angeboten, um diese zu bestatten.


Von der Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen gingen in den Jahren 1940/41 insgesamt zwanzig Transporte von Emmendingen aus in Vernichtungsanstalten, 13 davon nach Grafeneck und sieben ins hessische Hadamar.


Vor diesem Hintergrund treffe ich eine Auswahl von sechs Einzelschicksalen. Vier Kleindenkmale davon können am 12. Oktober 2005 durch Gunter Demnig verlegt werden. Sie sind gewidmet:

Diese Opfergruppe wird ergänzt durch die Verlegung des "Stolpersteins" für Elfriede Caroli am 7. November 2006 und für meine Großmutter Katharina am 22. November 2006.