Lilly Reckendorf (1889 -1952)

Ein Plädoyer für das Gedenken

Stationen eines Lebens: Freiburg - Hausen – Lahr – Freiburg – Gurs – Basel - Freiburg Zur Erinnerung an die Lehrerin Lilly Reckendorf (1889 – 1952), für die am 12. Januar 2004 in Lahr der erste „Stolperstein“ verlegt wurde.

Von Gardy Käthe Ruder,

veröffentlicht in "Unterrichtspraxis, GEW-Monatsheft vom 19.10.2007 in "b&w - bildung und wissenschaft", ergänzt durch weitere persönliche Informationen.

Kurzbiographie

Sich selbst sieht sie als vollwertige Christin, deren Leben im Glauben tief verwurzelt ist. Mit der jüdischen Bevölkerung hat sie wenig Kontakt. Der evangelischen Landeskirche gilt sie als „Judenchristin“ oder „getaufte Jüdin“. Wegen ihrer jüdischen Herkunft wird sie als Lehrerin zwangsbeurlaubt, später von Nationalsozialisten verfolgt, vertrieben und nach Gurs deportiert. Dort hilft sie die Not im Lager zu lindern. Mit Hilfe einer überkonfessionellen Pfadfinderorganisation gelingt ihr die abenteuerliche Flucht in die Schweiz. Später kehrt sie nach Freiburg zurück und erfährt erneut Diskriminierung im Rahmen der Restitution. 1952 stirbt Lilly Reckendorf und findet ihre letzte Ruhestätte im elterlichen Grab auf dem Freiburger Hauptfriedhof. Hier wird 2011 der Grabstein der Familie Reckendorf auf den Ehrenhain versetzt.


Einleitung

Die vorliegende Abhandlung versteht sich als Projekt, das die Lebensgeschichte eines Menschen während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft exemplarisch darstellt und mosaikartig beleuchtet. Im Mittelpunkt steht der Tag der Deportation aller Juden aus Baden, dem Saarland und der Pfalz in das südfranzösische Konzentrationslager Gurs am 22. Oktober 1940. Anhand dieser konkreten Lebensgeschichte, wie Lilly Reckendorf diesen Tag erlebt, mit welchen Rahmenbedingungen sie in Gurs konfrontiert ist und was ihr Kraft gibt, ihr Schicksal zu bewältigen, um selbst im Konzentrationslager seelsorgerisch tätig zu sein, stellt ein Fundament dar, das einerseits heutige Schülergenerationen auch emotional anspricht und andererseits Anregungen zur Auseinandersetzung bietet wie beispielsweise zur Rolle der Kirche während der NS-Diktatur oder von Behörden nach dem Ende des 2. Weltkriegs.


Das Projekt orientiert sich an den Bildungsstandards des Landes Baden-Württemberg für allgemein bildende Schulen, die seit dem Schuljahr 2004/5 in Kraft sind unter Einbeziehung außerschulischer Lernorte. Und es erfüllt Kriterien zum Schwerpunktthema „27. Januar“: Erziehung hat diesbezüglich zum Ziel, „den Kenntnisstand über die Vernichtung zu erhöhen, das Gedenken an die Opfer zu erhalten sowie Lehrer und Schüler zu ermutigen, mit Bezug zur Gegenwart über die ethisch-moralischen und geistigen Fragen, die der Holocaust aufgeworfen hat, nachzudenken.

Lebensgeschichte

Cäcilie Reckendorf, die auch Lilly (Lili) genannt wird, kommt am 29. August 1889 als älteste Tochter von drei Kindern in Freiburg/Breisgau zur Welt. Ihre Eltern sind Frieda geb. Sandheimer und Dr. Hermann Reckendorf, der an der Universität Freiburg Orientalistik lehrt. Die jüdische Familie lässt sich 1904 taufen und tritt zum evangelischen Glauben über. Das hat zur Folge, dass sie innerhalb der evangelischen Landeskirche den Status von „Judenchristen“ oder „getauften Juden“ einnimmt.

1907 besucht Lilly Reckendorf die Höhere Mädchenschule in Freiburg und legt dort das Examen für evangelische Religionslehrerinnen ab. Ihren Dienst nimmt sie als erste Lehrerin in Hausen bei Lörrach auf.

Von 1924 bis 1938 wohnt Lilly Reckendorf nach eigenen Angaben in der Lotzbeckstr. 27 (heute Nr. 41) in Lahr . Sie unterrichtet an der Fortbildungsschule für Mädchen. Die Ernennung zur Fortbildungshauptschullehrerin erfolgt im Juli 1925.

Prägende Erfahrungen

Lilly Reckendorf verbindet in Lahr eine Freundschaft mit dem langjährigen Pfarrer der Christusgemeinde Krastel und in Freiburg mit dem evangelischen Pfarrer und Leiter der evangelisch-badischen Jugend Otto Roland sowie dessen Familie, hier zu sehen auf dem Photo rechts. Sie steht hinten neben der Mutter der Kinder. Häufig hält sich Lilly Reckendorf im Hause Roland auf und zeigt großes Interesse für die drei Kinder Ursula (1917 – 2003), Dieter (1920 – 2003) und Annemarie, die 1923 zur Welt kommt und der sie Patin wird. Die Aufnahme zeigt Lilly Reckendorf im Kreis von Familie Roland als 2. von rechts in der hinteren Reihe. Vorne ist Dieter Roland zu sehen im Alter von acht Jahren. Er ist einer der Sponsoren des "Stolpersteins" für die Familienfreundin.

Als Otto Roland 1930 an einer Viruserkrankung stirbt, nimmt Lilly Reckendorf seinen Sohn Dieter in Lahr für drei Monate bei sich auf. Er wird später Kinderarzt und Sponsor des 1. Lahrer Stolpersteins. Lilly Reckendorf beschreibt er als Pädagogin mit festen Grundsätzen und erlebt seinen Aufenthalt bei ihr als Bereicherung.

Die Rolle von Vertretern der evangelischen Landeskirche

1933 fällt Lilly Reckendorf unter das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“. Mit diesem Erlass sollen Juden aus dem öffentlichen Leben gedrängt werden und er ist Teil der rassenideologischen Gesetzgebung. Lilly Reckendorf wird von der Ausübung ihres Dienstes beurlaubt und wendet sich in ihrer Not an den emeritierten Präsidenten der evangelischen Landeskirche D. K. Wurth. In ihrem Schreiben an ihn betont sie die Ernsthaftigkeit ihres Glaubens, ihre Tätigkeiten innerhalb der Kirche wie die Leitung eines Kirchenchors oder ihr Engagement in der protestantischen Jugendbewegung und die militärische Laufbahn ihres 1898 geborenen Bruders Otto. Das Eintreffen ihres Schreibens fällt zeitgleich zusammen mit einem Sitzungstermin des deutsch-evangelischen Kirchenausschusses in Berlin, an dem auch D. K. Wurth teilnimmt. Das Gremium vertritt gegenüber jüdischen Konvertiten eine Haltung, die einer stillschweigenden Akzeptanz der antisemitischen Hetzkampagnen gleichkommt und geht von der Annahme aus, dass das „völkische Bewusstsein“ innerhalb der eigenen Kirche aufs Empfindlichste gestört werde.

Auf die Anfrage Lilly Reckendorfs reagiert der evangelische Oberkirchenrat mit jeweils einem schreiben an den Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz in Karlsruhe, sowie an die evangelischen Dekanate in Freiburg und Lahr am 2. Mai 1933. Darin werden „gleichzeitig weitere Erhebungen über Frl. Reckendorf, die Mitglied der evangelischen Landeskirche sei und über ihre Eltern veranlasst“ . Insbesondere wird das Dekanat Lahr aufgefordert, über Frl. Reckendorfs „kirchliche Haltung, sittliche Führung und ihre Betätigung im Dienste der evangelischen Landeskirche eingehend zu berichten“ . In seinem Antwortschreiben bescheinigt Dekan Emil Demuth vom Dekanat Lahr Lilly Reckendorf „religiösen Ernst, sittlichen Charakter und kirchliches Interesse“ . Ihre Glaubensrichtung sei jedoch mehr „idealistisch frommer als biblisch-reformatorischer Art“. Weiter berichtet Demuth, dass zwar eine Beurteilung ihres Arbeitsverhaltens nicht existiere, doch sei dem Dekanat „von zuverlässiger Seite mitgeteilt worden, dass sie den Anforderungen der fortbildungsschulpflichtigen Mädchen nicht gewachsen sei“ . Der emeritierte Kirchenpräsident antwortet Lilly Reckendorf, dass die Kirche derzeit nicht imstande sei, „die Maßnahmen gegen die Überfremdung unseres Volkes zu hindern“ . Darüber hinaus sichert er Lilly Reckendorf und „ihren Stammesgenossen die brüderliche Liebe nach dem Evangelium unseres Herrn Jesu Christu“ zu. Wurth handelt hier wie viele Mandats- und Amtsträger der evangelischen Kirche aus der Überzeugung heraus, dass klare Stellungnahmen und Intervention die politischen Spannungen nur vergrößern würden, was einer Verdrängung der Bedrohung der christlichen Bevölkerung gleichkommt.

Nachdem Lilly Reckendorf von der Ausübung ihres Dienstes als Lehrerin beurlaubt ist, kehrt sie nach Freiburg zurück und bewohnt ein Zimmer im Haus von Witwe Lenel in der Holbeinstr. 5. In unmittelbarer Nähe befindet sich ihr Elternhaus in der Maximilianstr. 34.

Tag der Deportation und Aufenthalt in Gurs

In den frühen Morgenstunden des 22. Oktober 1940 ergeht an die jüdische Bevölkerung und an diejenigen, die nach rassenideologischem Verständnis dazu gezählt wurden in Baden, dem Saarland und der Pfalz die Aufforderung, sich binnen Stundenfrist für die Abholung bereit zu halten. Die Maßnahme betrifft Lilly Reckendorf ebenso wie Witwe Lenel und deren Tochter Berta. Konfus und außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen, kann Lilly Reckendorf kaum das Nötigste packen.

In den Nachmittagsstunden warten am Annaplatz Busse, welche die nun Heimatlosen zur Güterhalle (heute Hebelschule) bringen. Hier treffen weitere Betroffene aus Freiburg und dem Umland ein. Nächster Schritt in der Chronologie von Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung ist in der Nach er Fußweg zu den Gleisen, an denen bereits besetzte Züge aus Norden eintreffen. Ziel ist das unbesetzte Frankreich, das nach vier Tagen erreicht wird.

In Gurs, am Fuße der Pyrenäen und nahe der spanischen Grenze, befindet sich ein Internierungscamp, das nach dem spanischen Bürgerkrieg für Soldaten der republikanischen Armee und der Internationalen Brigaden eingerichtet worden war. Es ist von Stacheldraht eingefasst und besteht aus 13 Ilôts, wobei jedes aus durchschnittlich 26 Barracken einschließlich Büro bestand. Nach der Ankunft, die in Lastwagen erfolgt, wird Lilly Reckendorf Baracke 9 zugewiesen. Der Alltag der Internierten besteht aus katastrophalen hygienischen Verhältnissen wie beispielsweise Latrinen, die in Regenperioden nur durch Knie hohe Schlammassen erreichbar sind. Besonders alte Menschen überleben den ersten Winter nicht in Behausungen mit kaputten Fenstern und nicht ausreichend funktionierenden Heizungen. Nur wenige Decken oder Matratzen stehen zunächst zur Verfügung, sodass Lilly Reckendorf acht Tage und Nächte sitzend auf Koffer und Rucksack verbringt. Sie appelliert an die Mitbewohnerrinnen, ihre Matratzen täglich für ein bis zwei Stunden zur Verfügung zu stellen. Nach ihrem energischen Auftritt wird sie mit der „Wahrnehmung der Geschäfte in der Baracke“ betraut. Um der Rattenplage zu begegnen, fordert sie strikte Sauberhaltung ein.

Sie schöpft Kraft aus der Bibel und führt abendliche Lesungen oder Bibelstunden am Sonntag Nachmittag ein. Auch leistet sie seelsorgerisch Hilfe zwischen Eltern und Kindern. Aus der Not geboren entstehen gemeinsam wichtige Hilfsmittel wie Lampenschirme, Blumenvasen und selbst kleine oder größere Öfchen mit Drahtrosten aus Blechdosen, die einen hohen Stellenwert haben und wie Schätze behandelt werden. Auch ein kleiner Barackengarten entsteht. Lilly Reckendorf unterrichtet Lagerkinder in Geographie und Naturgeschichte, wobei als Unterrichtsmaterial lediglich Atlanten zur Verfügung stehen.

Sie übersteht die Strapazen des Lagers dennoch halbwegs unbeschadet, was sie mit ihrer vorherigen Lebensführung erklärt. Dazu zählen Einfachheit, Erfahrungen mit Pfadfindergruppen, das Gefühl der Verantwortung, eine robuste Gesundheit, ihre guten französischen Sprachkenntnisse, ihr tiefer Glaube und „das unbedingte Gefühl, geführt zu sein“.

Rettende Flucht

Nach 21 Monaten gelingt es Lilly Reckendorf, mit weiteren arbeitsfähigen Internierten Gurs zu verlassen und ein Protestantenheim in den Cevennen, nahe der Loirequelle zu beziehen. Die Cimade (Comité Inter-Mouvement Auprès des Évacués), eine Hilfsorganisation im Auftrag der evangelischen Kirche, mit der sie über das Rote Kreuz in brieflichem Kontakt steht, unterstützt die Maßnahme mit finanziellen Mitteln aus Schweden und den USA. Ihr Leben verändert sich grundlegend. Sie kann ein kleines Dachzimmer bewohnen, in dem sich ein bequemes Bett und sogar ein Spiegel befindet. Haus-, Holz- und Gartenarbeit sind zu leisten, im Wald werden Pilze oder Heidelbeeren gepflückt. Die Mahlzeiten beschreibt sie als sehr abwechslungsreich. Gleichzeitig werden die wenigen noch Verbliebenen in Gurs über Drancy nach Auschwitz deportiert.

In Abwesenheit der Bewohner kontrollieren Schergen der SS das Anwesen. Auch die Bevölkerung in der näheren Umgebung darf von der Anwesenheit der Gäste nichts erfahren. So beginnt für Lilly Reckendorf eine Nerven aufreibende Odyssee von der Haute Loire, über die Ardèche in Richtung französischer Alpen. Ein Kloster in den Hohen Savoyen wird zum Zufluchtsort für sie und weitere Flüchtende für mehrere Monate. Im Schatten der Angst erfährt sie eine besondere Form der Wertschätzung. Zu den Weihnachtsvorbereitungen des Jahres 1942 zählen für sie ganz selbstverständlich nicht nur religiöse Einstimmung auf das Fest, sondern auch kreatives Gestalten mit einfachsten Mitteln. Sie stellt filigrane Weihnachtssterne aus Briefumschlägen mit zugehörigem Seidenpapierinnenfutter her.

Am 22. Januar 1943 bricht sie vom Kloster auf und erlebt den geführten Gang über die französisch-schweizerische Grenze als außerordentliche Belastung. Für Basel erhält sie ein Visum und eine Aufenthaltsbewilligung, wo sie im März 1943 eintrifft und in der Rheingasse 76 ein kleines Zimmer bewohnt. In den darauffolgenden drei Jahren schreibt sie anhand von Tagebuchaufzeichnungen ihre Erinnerungen an die Deportation nach Gurs und die anschließende Flucht nieder.

Rückkehr nach Freiburg

Von Basel aus nimmt sie Kontakt zu Behörden auf und stellt Wiedergutmachungsansprüche. Dazu wendet sie sich an den Freiburger Kaufmann, Schuhmachermeister und Stadtrat Alfred Bea. Im Zuge von Arisierungsmaßnahmen kaufen er und seine Familie Lilly Reckendorfs Elternhaus in der Maximilianstr. 34, das sie zuvor gemietet hatten. Notariell erteilt Lilly Reckendorf Alfred Bea von Basel aus Vollmacht, sie als „Opfer von Ausplünderungsmaßnahmen“ gegenüber den Behörden zu vertreten . Sie stellt Forderungen an den Staat u.a. aus dem Zwangsverkauf ihres Elternhauses oder auch wegen Ausgleichs von Gehaltseinbußen durch ihre Zwangspensionierung und die Rückgabe ihrer Wohnungseinrichtung, die sich z. T. in Polizeigewahrsam befindet. Diesbezüglich gibt eine Akte im Staatsarchiv Freiburg Auskunft über die Bearbeitung von Lilly Reckendorfs Ansprüchen. Am 10. April 1947 stellt ein Beamter des Badischen Ministeriums des Inneren fest, dass Lilly Reckendorf israelitischer Konfession sei. Gemäß Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 sei sie keine Deutsche mehr. Die Staatsbürgerschaft könne nur durch Antrag wieder erlangt werden. Mit dieser Begründung verlangsamen bzw. verhindern Verantwortliche in den Behörden die Abwicklung ihrer Restitutionsansprüche.

Das Ehepaar Bea und Lilly Reckendorf vergleichen sich bezüglich deren Elternhaus am 7. Januar 1952. Auch erhält sie Teile ihrer früheren Wohnungseinrichtung zurück, die sich in Privatbesitz befinden.

Nachdem Lilly Reckendorf bereits 1948 wieder nach Freiburg zurück gekehrt war und ein kleines Zimmer in der Maximilianstr. 30 bewohnt, nimmt sie für zwei Jahre ihren Beruf als Lehrerin nochmals auf. Sie erkrankt schwer und erliegt im April 1952 einem Krebsleiden. Bestattet wird sie im elterlichen Grab, das sich an der Westmauer des Freiburger Hauptfriedhofs befindet. Es trägt die Aufschrift „Reckendorf“ und einen Lorbeerkranz. Hier hatten bereits 1906 ihre Mutter Frieda und ihr Vater Hermann 1924 ihre letzte Ruhestätte gefunden.

Spurensuche

Mein Name ist Gardy Käthe Ruder und ich habe das Projekt “Stolpersteine in Lahr“ initiiert. Als Enkelin eines Opfers der NS-Euthanasie ist es mir ein persönliches Anliegen, dass Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung im NS-Staat nicht in Vergessenheit geraten. In Freiburg 2002 auf das Projekt „Stolpersteine“ des Kölner Künstlers Gunter Demnig aufmerksam geworden, unternehme ich ein Jahr später erste Schritte, das Vorhaben in meiner Heimat- und Geburtsstadt und der meiner Großmutter Katharina auf den Weg zu bringen.

Nach Presseberichten in den regionalen Zeitungen melden sich bei mir Dr. Dieter Roland, der frühere Lahrer Kinderarzt und seine Tochter Susanne mit dem Anliegen, die Patenschaft für ein Kleindenkmal für Lilly Reckendorf übernehmen zu wollen. Der Sponsor sieht darin einen „Ausdruck für eine lebenslange Freundschaft“. Dr. Roland schildert in Gesprächen seine Begegnungen mit der Familienfreundin und vermittelt den Kontakt zu seiner Schwester Ursula, die in Freiburg wohnt und noch vier Wochen vor ihrem eigenen Tod Orte mit mir aufsucht, von denen Lilly Reckendorf in ihren Erinnerungen schreibt. Vom Haus Holbeinstr. 5 aus beginnt für sie und viele andere am 22. Oktober 1940 die Deportation. In 100 m Luftlinie entfernt befindet sich Lilly Reckendorfs Elternhaus in der Maximilianstr. 34, das zum damaligen Zeitpunkt noch vom 90-jährigen Alfred Wilhelm Bea bewohnt wird, der sich lange Jahre um die Pflege des Reckendorf’schen Grabes gekümmert hat. Wir lernen ihn bei der Begegnung kennen und er bittet uns in sein Haus. Später besuchen Ursula Roland und ich noch das Reckendorf’sche Familiengrab auf dem Hauptfriedhof.

Ich erhalte eine vollständige Kopie von Lilly Reckendorfs Erinnerungen, die neben den im „Alemannischen Landjudentum“ veröffentlichten Teil auch die Flucht in die Schweiz beschreibt. Hinzu kommen Fotos und auch ein kleiner von Lilly Reckendorf gefertigter Weihnachtsstern, den sie 1942 im Kloster hergestellt hat und den mir Ursula Roland schenkt. Durch eine Hausarbeit des Tübinger Studenten Andre Kendel von 1989 zur „Anfrage der judenchristlichen Lehrerin L. Reckendorf an den Kirchenpräsidenten D. Wurth ...“ erhalte ich Einblick in die Praxis des Umgangs der evangelischen Landeskirche mit „Judenchristen“ bzw. „getauften Juden“.

Weitere Nachforschungen im Staatsarchiv Freiburg, wo eine Restitutionsakte existiert, ergänzen den Informationsstand. In der Verwaltung des Freiburger Hauptfriedhofs erfahre ich , dass die Ruhezeit für das Reckendorf’sche Grab im Januar 2011 endet. Ich wende mich am 30. Juli 2008 an den Freiburger Oberbürgermeister Dr. Dieter Salomon, mit der Anfrage und der Bitte, zu prüfen, ob der Grabstein der Familie Reckendorf auf den Ehrenhain versetzt werden kann. Mit umfassenden Informationen begründe ich mein Anliegen, das schließlich durch das Stadtarchiv Freiburg befürwortet wird. Die Versetzung des Grabsteins erfolgt im April 2011. Der einst nach Osten ausgerichtete Grabstein wie alle Grabmale auf jüdischen Friedhöfen, bleibt auch am neuen, wieder nach Osten ausgerichteten Ort erhalten. Steine von Besuchern zieren ihn und in unmittelbarer Nähe befindet sich ein Kinderspielplatz. Insofern korrespondiert der neue Standort mit Lilly Reckendorfs Lebensgeschichte auf besondere Weise. Immer wieder wenn ich nach Freiburg komme, besuche ich das Reckendorf’sche Grab, um dessen Pflege sich nun die Stadt Freiburg kümmert, und freue mich, dass fast 60 Jahre nach Lilly Reckendorfs Tod eine späte Würdigung ihrer Lebensleistung möglich war.

Einmal jährlich veranstaltet die Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg den „Europäischen Tag der jüdischen Kultur“, der sowohl im grenznahen Elsass wie auch in ganz Baden-Württemberg begangen wird. Im September 2011 kann ich eine Spurensuche zu Lilly Reckendorfs Lebensgeschichte anbieten, die nachfolgende Stationen umfasst. Der Weg, den Lilly Reckendorf am 22. Oktober 1940 gezwungen war, zu gehen, kann auch mit Schulklassen als Stadterkundung zu Fuß oder in Gruppen mit dem Fahrrad erprobt werden.

  1. Am Haus Holbeinstr. 5 beginnt der Tag der Deportation. Hier befinden sich drei Stolpersteine, die Familie Lenel gewidmet sind. Eine Tafel am Haus verweist auf Otto Lenels Professur.
  2. Am Haus Maximilianstr. 34 erinnert noch heute ein Namenszug an die früheren Besitzer Bea.
  3. Am Annaplatz warteten die Busse auf die jüdische Bevölkerung aus der Wiehre. Eine Tafel am Annakirchle gibt Hinweise auf die Vorgänge am Deportationstag.
  4. Am Platz der Alten Synagoge macht ein merkwürdiger Wegweiser aufmerksam. Ihn gibt es seit dem 22. Oktober 2000.
  5. Vom „Mahnmal mit dem vergessenen Mantel“ an der Wiwilibrücke fahren die Züge nach Gurs.
  6. An der Westseite der Hebelschule befindet sich eine Gedenktafel. Hier werden Menschen aus Freiburg und Umgebung über den Tag gesammelt, bevor sie in der Nacht zum Bahngleis gebracht und die Züge besteigen müssen.
  7. Ziel ist der Freiburger Hauptfriedhof. Auf dem Ehrenhain befindet sich der Grabstein der Familie Reckendorf. Eine kleine Tafel gibt Hinweise auf Lilly Reckendorfs Lebensgeschichte.

Das Projekt bietet vielfältige Möglichkeiten der Beschäftigung. Am Beispiel eines Einzelschicksals kann die heutige Schülergeneration sensibel vertraut werden mit Vorgängen während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Inhalt und einzelne Projektschritte verstehen sich als Angebot im Sinne von Wahrnehmung und Anregung zum Fragen stellen. Damit verbinde ich die Hoffnung, rechtsradikalen Tendenzen mit einem klaren Standpunkt zu begegnen, auch als Schutz, damit sich ähnliche Vorkommnisse nie mehr wiederholen.

 

Kontakt

Zur Stadterkundung habe ich ein Schülerheft konzipiert mit einer Beschreibung des Gesamtkontextes und einer Kurzbiographie. Die einzelnen Stationen sind dargestellt in Form von Lückentexten und Rätseln. Anfragen auch für eine kooperative Durchführung eines Projekts können an gardyruder@web.de gestellt werden.

Literaturliste