Besondere Ereignisse

Anneliese Pollak geb. Lederer kommt erstmals zu einem offiziellen Besuch ihrer einstigen Heimatstadt

Wir schreiben das Jahr 2004. Die ersten fünf „Stolpersteine“ in Lahr sind für jüdische Verfolgte und Opfer verlegt, als ich auf das Schicksal der Familie Lederer aufmerksam werde und feststelle, dass Tochter Anneliese als Einzige überlebt hat. Sie wohnt zum damaligen Zeitpunkt im belgischen Turnhout. Ihre Eltern Jeanette und Leopold werden in Auschwitz ermordet, ihre beiden Brüder Hans Herbert und Walter sind im KZ Sobibor verschollen.

Ihr Schicksal bewegt mich als ich Daten und Fakten in Hildegard Kattermanns Dokumentation entdecke. Ihre Adresse steht auf Einladungslisten von Besuchen ehemaliger Lahrer Jüdinnen und Juden aus den Jahren 1987 und 1992. Nur zu einem offiziellen Besuch hat sich Anneliese Pollak bis zum damaligen Zeitpunkt nicht entschließen können. Über die Telefonauskunft erhalte ich ihre Telefonnummer und setze mich im Februar 2004 mit ihr in Verbindung. Am anderen Ende der Leitung erlebe ich einen Menschen, der mir fröhlich und offen begegnet. Schnell stellt sich bei uns beiden eine Vertrauensbasis ein und wir vereinbaren, dass ich sie Anfang April 2004 für drei Tage besuche.

Vieles erfahre ich von ihrer grausamen Lebensgeschichte und sie zeigt mir Dokumente, die Aufschluss geben über die Abwicklung ihrer Wiedergutmachungsansprüche nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Die verschiedenen Verfahren ziehen sich über fünfzehn Jahre hin. Wir besprechen auch die geplante Verlegung von „Stolpersteinen“ für sie und ihre Herkunftsfamilie. Zusammen mit Christa Gast plane und organisiere ich Anneliese Pollaks Aufenthalt vom 13. bis zum 22. Juli 2004. Auf eigenen Wunsch ist sie bei ihrer Cousine in Lahr untergebracht.

Am Tag der Verlegung lädt der Oberbürgermeister zu einem Empfang ins Rathaus ein, an dem auch Mitglieder der verschiedenen Gemeinderatsfraktionen und politische Vertreter sowie Sponsoren und die regionale Presse teilnehmen. Zum Einlassen der fünf Kleindenkmale in den Gehweg, das von einem Mitarbeiter des Bauhofs ausgeführt wird, trägt der Oberbürgermeister die Gedenksteine vom Rathaus zum Zielort.

Zum weiteren Rahmenprogramm der Besuchswoche zählen die Begegnung mit dem früheren Kindermädchen der Familie Lederer, zum damaligen Zeitpunkt 95 Jahre alt. Auch trifft Anneliese Pollak ihre frühere Jugendfreundin aus dem Nachbarhaus nach 66 Jahren wieder. Eisige Atmosphäre hingegen herrscht bei einem „Klassentreffen“ an ihrer früheren Schule, der Oberrealschule mit Namen Böhlke-Schule, die dem heutigen Max-Planck-Gymnasium entspricht im Gebäude des Clara-Schumann-Gymnasiums. Anneliese Pollak hatte die Bildungseinrichtung wegen ihrer jüdischen Herkunft 1937 verlassen müssen. Ihre Schülerkarteikarte existiert noch im Archiv des Max-Planck-Gymnasiums. In einem Album finde ich Namen und Photos ihrer früheren Klassenkameradinnen und –kameraden. Es ist der Abitursjahrgang 1941. Ereignisse werden wieder lebendig, Gespräche sorgen für Aufklärung. Doch hier hat die Zeit keine Wunden heilen können, zumindest nicht bei Anneliese Pollak. Sie berichtet, dass sich mit zunehmender Entrechtung der jüdischen Bevölkerung viele ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler von ihr und der Schmieheimerin Ingeborg Marx, ebenfalls israelitischer Konfession, zurückgezogen und abgewandt hätten. Die beiden anwesenden früheren Schulkameradinnen und der Schulkamerad erklären das so, dass sie von ihren Eltern aus nicht mehr mit Juden sprechen durften.

Zu den entspannteren Aktivitäten zählt dann noch ein Besuch auf der Landesgartenschau in Kehl. Eine jüdische Familie aus Kehl begleitet uns an diesem 18. Juli 2004.


Ein „Stolperstein“ verschwindet eines Tages spurlos und wird insgesamt dreimal verlegt

Erstmals verlegt wird der Gedenkstein für Karl Radlbeck am 12. Oktober 2005. Sponsor ist das Lahrer Redaktionsteam der Badischen Zeitung. Der "Stolperstein" wird zum Stein des Anstoßes und erzählt seine eigene Geschichte. Über mehrere Wochen war das Kleindenkmal während der Geschäftszeit mit einer Stele verdeckt worden. Ein Bediensteter des Rechts- und Ordnungsamts klärt mit der Geschäftsinhaberin den Sachverhalt. Danach bleibt der Gedenkstein auch während der Geschäftszeit sichtbar.

Als im Stadtzentrum im Bereich Marktstraße/Kirchstraße der Straßenbelag im Frühjahr 2007 erneuert wird, ist der Gedenkstein eines Tages spurlos verschwunden. Eine Anzeige seitens der Stadt Lahr bringt keine Aufklärung über seinen Verbleib. Die Verantwortlichen der Stadt sagen zu, dass der „Stolperstein“ ersetzt werde. Nachdem mehr als ein halbes Jahr nichts geschieht, entschließe ich mich zu einer Aktion während der „Chrysanthema“, der alljährlich stattfindenden Blumenschau, die zahlreiche Besucher in die Innenstadt lockt.

Weiße Rosen und Flugblätter

Zu dritt positionieren wir uns vor dem Juweliergeschäft, sprechen Passantinnen und Passanten an und überreichen ihnen eine weiße Rose und ein „Flugblatt“. Dieses enthält Informationen zum Projekt "Stolpersteine in Lahr" und zur Lebensgeschichte von Karl Radlbeck. Über die Aktion berichten der „Lahrer Anzeiger“ und die „Lahrer Zeitung“, die auch einen Leserbrief von mir veröffentlicht.

Am 16. November 2007 ersetzen zwei Mitarbeiter des Bauhofs den "Stolperstein", auf dem der Name Walter Radlbeck zu lesen steht. Was war geschehen? Auf dem Dokumentationsschriftstück war mir zunächst dieser Fehler unterlaufen, den ich dem Stadthistoriker anschließend mitteile. Er vollzieht die Korrektur nicht und gibt die falschen Daten an Gunter Demnig weiter.

Nun berichtet die Lokalredaktion der Badischen Zeitung über den Vorgang und stellt fest, der Fehler habe an der „Dokumentationsurkunde“ gelegen. Die Veröffentlichung eines Leserbriefs, der den Sachverhalt richtig gestellt hätte, wird mir verweigert.

Die dritte Verlegung dieses Gedenksteins, bei dem der Text für mich zur Überraschung wird, folgt am 4. März 2008. Diesmal ist der Name korrekt. Den Schriftzug "eingewiesen in "Heilanstalt" Grafeneck, kann ich nicht nachvollziehen. Ich weiß nicht, wessen Idee es war, diesen Text zu wählen. Die Stadt ist vertreten durch den Stadthistoriker und den Stellvertreter des Oberbürgermeisters.


Nach mehr als sechs Jahren findet das 20. Lahrer Kleindenkmal seinen Platz im Öffentlichen Raum


Im Januar 2013 meldet sich bei mir ein Mann, der in anderen Städten erfolgreich „Stolpersteine“ für Menschen hat verlegen lassen können, die wegen homosexueller Handlungen verurteilt, in Heil- und Pflegeanstalten untergebracht und ermordet worden waren. Sein Anliegen ist es, dass Johannes Böhme, der fast erblindet nachweislich 1934 in Lahr bei seiner Schwester in Lahr gelebt hat, einen Gedenkstein erhält.


Eineinhalb Jahre zuvor hatte er sich an das Stadtarchiv Lahr gewandt, um Informationen über dessen Lebenszeit zu erhalten. In anderen Städten habe es eine überschaubare Frist von einer bis mehreren Wochen gegeben, doch in Lahr wurde er mit den Worten vertröstet, dass eine Antwort noch auf sich warten lassen müsse wegen Arbeitsüberlastung und dass eine Frau, die für den Stadthistoriker die Recherche macht, gerade keine Zeit habe. Ich war diese Frau nicht und ich habe über diesen Vorgang zuerst zum oben erwähnten Zeitpunkt erfahren.


Wir vereinbaren im Februar 2013 einen Termin, um selbst im Stadtarchiv zu recherchieren. Dort findet sich im Adressbuch der Stadt Lahr von 1934 ein Eintrag, dass Johannes Böhme gemeldet war. Danach verliert sich allerdings seine Spur. Da es, was den gerichtlichen Prozess in Freiburg zwar eine Karteikarte gibt aber keine Prozessakte, gibt es auch keinerlei Hinweise über dessen Verlauf. Sowohl der Recherchierende wie auch ich sind der Meinung, dass es keineswegs gesichert ist, dass Johannes Böhme homosexuell war, da es definitiv dafür keinen Nachweis gibt, zumal auch nur vermutete Homosexualität während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft automatisch und zwangsläufig zum Ausschluss aus der Gesellschaft geführt hat.


Wir können Kontakt herstellen zum Neffen von Johannes Böhme, der das Haus in der Eichrodtstr. 9 zum damaligen Zeitpunkt an seine drei Töchter vererbt hat. Hier gibt es Unstimmigkeiten, was die Zustimmung zur Verlegung des „Stolpersteins“ anbelangt. Doch kurze Zeit danach trifft die schriftliche Zusage beim Stadtarchiv ein. Gemäß verwaltungsinterner, stillschweigender Änderung im Ältestenrat wäre das zum damaligen Zeitpunkt ohnehin nicht mehr notwendig gewesen.


Zur Kommunikation zwischen dem Stadthistoriker und mir wäre noch folgendes zu sagen: Am 30. Januar 2013 teilt er mir und der Frau, die ihm zuarbeitet mit, der Ältestenrat der Stadt Lahr habe „die alte Regelung bezüglich der Stolpersteine modifiziert. Bei zukünftigen Steinen ist die Einwilligung der Grundstückseigentümer nicht mehr nötig. Der Gemeinderat muss lediglich über die zu verlegenden Steine informiert werden. Diese Nachricht einstweilen bitte noch vertraulich behandeln.“ Am 2. Februar frage ich nach, ob sich nicht auch das Kommunikationsdefizit zwischen ihm und mir modifizieren lasse. Er antwortet, dass er meine Frage nicht verstehe. Immer wieder rege ich an, dass diejenigen, die sich in der Gedenk- und Erinnerungsarbeit engagieren möchten, sich an einen Tisch zusammensetzen, um ihre Ideen zu diskutieren. Am 7. Februar 2013 teilt mir der Stadthistoriker folgendes mit: „ich möchte es kurz machen. Ich gehöre (und gehörte) nicht zu den Personen, die sich in Lahr in Sachen Gedenkarbeit engagieren möchten und möchte mich also in dieser Sache auch mit niemanden an einen Tisch setzen. Ich möchte mich auch nicht inhaltlich mit dem Sinn oder Unsinn des Stolpersteinprojekts befassen. Ich arbeite als Historiker im Stadtarchiv und erledige dort die Arbeit, die in diesem Kontext anfällt. Sollten also bei Ihren Vorhaben Probleme (Recherche, Informationen etc.) anfallen, bei der die Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv nötig ist, so stehe ich hierfür selbstverständlich zur Verfügung.“


Am 25. Februar 2013 erhalte ich in Kopie einer Nachricht, die im Original an den Recherchierenden gerichtet ist: „heute habe ich eine gute Nachricht. Gerade ist der Brief von der Familie B. gekommen, die sich mit einer Verlegung des Stolpersteins für Johannes Böhme einverstanden erklärt. Damit wird jetzt folgendes weitere Vorgehen in Gang gesetzt:


"Von mir werden für eine ganze Reihe von neuen Stolpersteine die Texte entworfen und in nächster Zeit Gunter Demnig zugeleitet. Wir hoffen, dass er im Herbst für eine neue Verlegung nach Lahr kommen kann. Zugleich werden Frau G., die mich in diesem Fall unterstützt, und ich versuchen, für die Steine Sponsoren und Spender zu gewinnen. ….“ Welchen Text er für Johannes Böhme vorgesehen hat, darüber kann Gunter Demnig Auskunft geben, sofern er das möchte. In der Zwischenzeit stimme ich den Text, der auf dem Gedenkstein eingraviert werden soll, mit dem Künstler und dem Rechercheur ab. Das Ergebnis hat folgenden Wortlaut: „Hier wohnte Johannes Böhme, Jg. 1881, eingewiesen 1941 Heilanstalt Emmendingen, 1942 Heilanstalt Hoerdt, „verlegt“ 1944 KZ Natzweiler, ermordet 10.4.1944“.


Die Verlegung des „Stolperstein“ für Johannes Böhme erfolgt am 14. April 2013 in Anwesenheit der Sponsoren, dem Schwulen- und Lesbenreferat des U-Asta an der Universität Freiburg. Es nehmen auch neben weiteren Interessierten gewählte Vertreter der Freien Wähler teil und der Kirchen. Der Oberbürgermeister ist vertreten durch seine Stellvertreterin von den Freien Wählern. Eingeladen waren alle Mitglieder des Gemeinderats.